Stadtgeschichten

Zwischen Fotografie und Film
Von Martin Schaub, Tages Anzeiger, 19. März 1994
Nicht nur ist Lüdin Autor von Filmen, auch seine Fotoprojekte gehen mit dem Zeitfaktor auf eigenwillige Weise um. Vor mehr als zehn Jahren zum Beispiel porträtierte er Menschen in Sizilien mit der Polaroidkamera, beobachtete sie mit dem Kleinbildapparat beim Betrachten des allmählich sich verfertigenden Bildes und suchte seine Modelle eine Woche später auf, um zu sehen und zu fotografieren, welchen Platz das Pola in ihrem Haushalt inzwischen eingenommen hatte. (...) 'Stadtgeschichten' gehen auf einen ersten Versuch aus dem Jahr 1979 zurück. Es sind Phasenbilder, gleichformatige Dreiergruppen, ausgestellt auf einem Horizont, mit kleinen Zwischenräumen zwischen den einzelnen Momenten. In diesen Zwischenräumen geschieht Unsichtbares; das Resultat kann man auf dem folgenden Bild ablesen. Wenn man sich die Zeit dazu nimmt, und ein bisschen Zeit braucht es, denn da scheinen keine sensationellen Ereignisse auf, im Gegenteil. Ganz kleine Alltagsgeschichten werden erzählt. Meistens werden die Geschichten vom gleichen Kamerastandpunkt aufgenommen.
Dort könnte Lüdin auch eine Filmkamera aufstellen, eine fixe Einstellung drehen. Dann könnte er die bezeichnenden Einzellbilder wählen. Doch Lüdins Film läuft im Kopf und in den Sinnen ab; er findet auf Anhieb die bezeichnenden Momente.
So entdeckt er mit der Kamera im Abendlicht an der Tramhaltestelle vor einem Spital eine Beileids-Szene; so fällt ihm eine symmetrische Geschichte zwischen einem Grossvater und seinem Enkel, eine Szene mit einigen zufälligen Requisiten, auf; so erzählt er die recht skurrile Geschichte zweier Motorradfahrer und ihrer Gefährte. Nur einmal kehrt Lüdin den Vorgang des Erzählens um, indem er ein nur dasitzendes, stadtbekanntes Basler Original mit der Kamera umkreist und dem Zuschauer enthüllt: einen Mann, der in Legionär uniform vor einem Café sitzt und dessen Gesicht von Brandwunden entstellt ist. Eine Enthüllung, ein kleiner Schreck.

Lüdins Fotoarbeit 'Stadtgeschichten' zeigt dieselbe Hintergründigkeit, die seine dokumentarische Filmarbeit auszeichnet.